Guillermo Blanco Hervás vom Museo Nacional de Ciencias Naturales CSIC in Madrid, Spanien, Alpenkrähenexperte, Autor und Organisator des 5. Alpenkrähenkongresses in Segovia, hat uns auf zwei kürzlich erschienene Artikel zur Situation der Alpenkrähe auf den Kanarischen Inseln, genauer auf La Palma, aufmerksam gemacht. Die Insel La Palma ist Heimat einer bedeutenden autochthonen Kolonie von Alpenkrähen, die ebenso wie die Kolonie auf dem benachbarten Festland in Marokko gerne auch von mitteleuropäischen Ornithologen aufgesucht wird, sei es im Urlaub oder bei gezielten Exkursionen.
Flugbild der Alpenkrähe, Foto: G. Blanco
Die Alpenkrähen-Population auf La Palma stabil in den vergangenen 15 Jahren
(Ch.G., frei nach einer Pressemeldung in der Tageszeitung @LaPalmaAhora, erschienen in Santa Cruz de La Palma am 27. Mai. 2021)
Die Alpenkrähe, auf Spanisch „la graja“ oder „chova piquirroja“ (rotschnäbelige Dohle), war früher auf den Kanarischen Inseln nicht nur auf Palma sondern ebenso auf Teneriffa, Gomera und wahrscheinlich auch auf Hierro verbreitet. Waren ihre Scharen früher so ungeheuer zahlreich, dass sie „die Sonne verdunkelten“, kommt sie heute nur mehr auf La Palma vor und ist dadurch geradezu zum Wappenvogel dieser Insel geworden.
Eine eben abgeschlossene Neu-Evaluierung des Bestandes, durchgeführt unter Leitung des Nationalmuseums für Naturwissenschaften in Madrid, ergab ca. 2700 bis 2800 Individuen (!) und damit annähernden Gleichstand mit den Zahlen aus dem vorhergehenden Zensus von 2010. Mit dieser hohen Individuenzahl stellt dieses Vorkommen auf La Palma eines der wichtigsten in der gesamten Westlichen Paläarktik dar.
Anlässlich der jüngsten Untersuchungen stellen die Forscher jedoch fest, dass trotz der scheinbar stabilen Zahlen die Gefährdung der Alpenkrähe auch auf La Palma eher größer als geringer geworden ist. Hauptgefahren sind nach wie vor die fortschreitende Urbanisierung und die Aufgabe von Kulturlandschaften, Waldbrände, der Gebrauch von Pflanzenschutzmitteln, direkte Verfolgung durch Jagd und Nestraub sowie Zusammenstöße mit elektrischen Leitungen und anderen anthropogenen Infrastrukturen. Angesichts dieser Bedrohungen wurde beschlossen, den nächsten Zensus bereits in kürzerem Abstand von 5 Jahren durchzuführen.
Abgesehen von diesen für den Artenschutz wichtigen Aspekten liegt der Fokus der wissenschaftliche Forschung des Museo Nacional de Sciencias Naturales auf der Klärung der genetischen Herkunft der Alpenkrähen-Population von La Palma. Überraschenderweise scheint diese nämlich keineswegs eng mit der geografisch relativ nahe gelegenen afrikanischen Population in Marokko verwandt zu sein sondern eher mit der Population auf der Iberischen Halbinsel, mit der sie aber nicht identisch ist. Davon handelt die folgende 2020 im Journal of Biogeography erschienene wissenschaftliche Veröffentlichung:
The ghost of connections past: A role for mainland vicariance in the isolation of an insular population of the red-billed chough
Francisco Morinha, Borja Milá, José A. Dávila, Juan A. Fargallo, Jaime Potti & Guillermo Blanco (2020): J Biogeogr. 2020;47:2567–2583., siehe Literatursammlung
Zusammenfassung (Übersetzung des engl. Abstracts; Ch.G.)
Ziel: Ozeanische Inseln wurden häufig von kleinen Gruppen von Individuen besiedelt, die sich vom nächstgelegenen Festland ausbreiteten und Insel-Populationen begründeten, die durch lokal adaptierte Phänotypen und geringe genetische Diversität charakterisiert sind. Alternativ muss – infolge von früheren geoklimatischen Veränderungen – die heutige Verbreitung der Art nicht mit der Verbreitung zur Zeit der ursprünglichen Besiedelung korrespondieren, so dass die derzeitige Festlandverbreitung das ursprüngliche Herkunftsgebiet nicht enthält, was zu irrtümlichen Annahmen bezüglich der Besiedelungsgeschichte führen kann. In dieser Arbeit benutzen wir genetische Variationsmuster um alternative Szenarien der Besiedelung der Kanarischen Inseln durch einen insularen Singvogel zu erforschen.
Untersuchungsorte : La Palma (Kanarische Inseln), Nördliches Afrika und die Iberische Halbinsel.
Art : Alpenkrähe (Pyrrhocorax pyrrhocorax).
Methoden: Wir benutzen phylogeographische und koaleszente Analysen von mitochondrialen DNA Sequenzen und 10 Microsatellit Positionen, zusammen mit Bayesischer demographischer Modellierung, um herauszufinden ob die Alpenkrähen auf La Palma (a) von heutigen Populationen auf der Iberischen Halbinsel oder (b) von heutiger Population in marokkanischen Inland-Bergregionen oder (c) von früheren Populationen an der marokkanischen Küste abstammen, wo früher geeignete Habitate existierten.
Ergebnis : Sowohl mitochondriale als auch nukleare Datensätze zeigen, dass die Alpenkrähenpopulation von La Palma sich klar von den heutigen marokkanischen und iberischen Populationen unterscheidet, jedoch näher mit der iberischen als mit der marokkanischen Population verwandt ist. Die genetische Diversität der Alpenkrähen auf La Palma ist geringer als die auf dem Festland, es gibt jedoch keine Hinweise auf frühere „Flaschenhälse“. Das am besten gestützte demographische Modell für die Herkunft der Alpenkrähen von La Palma, welches kongruent ist mit beiden genetischen Datensätzen, deutet auf eine mit der Iberischen nahe verwandten „Geisterpopulation“ hin, aus der sich die Inselpopulation im Verlauf der letzten 30000 Jahre entwickelt hat.
Schlussfolgerung : Unsere Ergebnisse passen am besten zur Annahme einer früheren Verbindung zwischen La Palma und Iberia entlang der Nordafrikanischen Küste, als hier noch geeignete Habitate existierten. Spätere Desertifikation dieser Küstengebiete führte zu einem lokalen Aussterben, welches den Fluss der Gene zwischen Iberia und den Inseln einschränkte und so die genetische Differentiation beförderte. Unsere Resultate führen entgegen der Intuition auf eine Lösung eines biogeographischen Rätsels und könnten dazu beitragen auch in anderen Regionen mit ähnlich komplexer klimatischer Vergangenheit die Besiedelungsgeschichte zu klären.
Fig.1 aus Morinha, F. & al (2020) : Szenarien der Besiedelung der Kanarischen Inseln durch die Alpenkrähe.